Ein Jahr arbeiten von zu Hause…. das „neue Normal“

Christoph Twiehaus | 27.03.2021

Freitag, 13.03.2020 war mein letzter „normaler Arbeitstag“. Eine bis dahin typische Woche mit verschiedenen Kundenterminen in mehreren Städten ging zu Ende und ich war ausnahmsweise Freitags („normalerweise“ war Freitags mein „Bürotag“) bei einem Kunden vor Ort, um mit dem Projektteam, das ich beraten durfte, die letzten offenen Punkte für den bevorstehenden Start des Office 365 Roll Outs abzustimmen. Die Umstellungsprozesse waren definiert und getestet, die Change- und Adoptionbegleitung in der Pilotphase erprobt und nachjustiert worden, die Kommunkationsmatrix stand und das Projektteam hob den Daumen für den Start. Ja, wir hatten schon einen Plan B für den Fall, das das mit diesem Virus doch ernst werden sollte, in der Tasche. Um 11:00 Uhr machte ich mich beim Kunden auf den Weg zum Bahnhof und kaum hatte ich das Gebäude verlassen und mein Handy wieder Empfang brach die Hölle los: Die Mailbox meldete sich mit einer satten Anzahl an Sprachnachrichten. Emails, SMS und Co. meldeten sich mit einer Sinfonie von Hinweistönen. Ich war spät dran und dachte nur: Gleich sitzt Du für 90 Minuten im Zug, da kannst Du dich in aller Ruhe um alles kümmern.
Nach dem Abhören der Sprachnachrichten und dem Lesen der Emails und Co. war mir nur klar, das die kommenden Wochen anders werden würden. Nicht klar war mir, das an diesem Tag ein Abschnitt zu Ende gehen würde.
Ein Abschnitt der mich über Jahre hinweg meist Montag bis Donnerstag kreuz und quer durch die Republik zu Kunden hat fahren lassen. In den verschiedenen Städten hatte man seine Stammhotels, seine Routinen für die Abende und war tagsüber auf einen Kunden und das aktuelle Projekt fokussiert. Für ein 3-stündiges Meeting war man auch mal einen ganzen Tag unterwegs. Der Vorteil von Videokonferenzen war vielen Kunden noch nicht vermittelbar oder es war für den Kunden entscheidend, das der Dienstleister vor Ort und damit „unter Kontrolle“ war. Wir spielten bis zu diesem Tag fleißig #Bahnbingo, #Flugbingo und #Hotelbingo. Immer auch ein Auge auf einen Status bei Bahn, Hotel oder Fluggesellschaft. Modern Workplace hieß bis dahin in vielen Fällen, das wir dank der Technik und entsprechender Hardwareausstattung überall arbeiten konnten. Züge und DB Lounges waren Treffpunkte mit Kollegen oder auch Kunden und meine Interim-Büros. Co-Workingspaces oder Kunden, deren Meetingräume wir auch ohne direkten Zusammenhang mit einem Vor-Ort-Termin nutzen durften, wußte ich sehr zu schätzen.

Aus und vorbei. Kommt so nicht wieder.
Stattdessen wird beim Buzzwordbingo seit Mitte 2020 auf das „neue Normal“ verwiesen. Was ist denn dieses neue Normal? Endete am 13.03.2020 das „alte Normal“? Wer definiert in diesem Zusammenhang „Normal“? Ich persönlich habe so meine Probleme mit dem Buzzwordbingo. Mit etwas Abstand kann ich offen zugeben, das die Zeit vor dem 13.03.20 alles andere als normal war. Ich hatte nur noch keinen Dreh gefunden das Hamsterrad zu meinem Gunsten in einer anderen Richtung oder Geschwindgkeit laufen zu lassen. Die letzten 12 Monate waren auch nicht normal. „In 6 Wochen ist alles vorbei und dann können wir wieder zur Normalität zurückkehren“ war und ist ein Trugschluß.
Was habe ich aus den letzten Monaten gelernt (ein Auszug):

  • Freiräume im Kalender verschwinden wie von Zauberhand
    Es hat einige Wochen gedauert, bis ich meinen Tagesablauf neu strukturiert hatte. Die ersten Wochen waren Marathontage ohne wirkliche Pausen an der Tagesordnung. Mittlerweile sind Blöcke für Pausen und Privates auch tagsüber fester Bestandteil meines Kalenders. Einige Kunden wollten zu Beginn nicht verstehen, das ich jetzt nicht mehr oder anders Zeit habe, nur weil die Reiserei wegfällt.
  • Arbeitsage sind granularer geworden
    Die Tage bestehen heute aus einer Vielzahl kürzerer Termine mit und für verschiedene Kunden. Das ist deutlich anstregender als ein Tagestermin beim Kunden vor Ort.
  • Als Unternehmen profitieren wir von „Remote only“
    Wir hatten als Unternehmen schon vor COVID-19 keine festen Büroräume, sondern arbeiteten von unseren jeweiligen Wohnorten gemeinsam an Kundenprojekten und beim Kunden vor Ort. Das hat uns sicher einen Start-Vorteil gebracht. Wir waren schon im „bürolosen“ arbeiten geübt. Wegfallende Reisezeiten schaffen Chancen und Freiräume, die als Individuum und als Unternehmen genutzt werden wollen
  • Persönliche Kontakte fehlen
    Der persönliche Austausch fehlt. Videokonferenzen sind „nur“ in 2D. Emotionen und Körpersprache sind schwer zu erfassen. Mal davon abgesehen, das viele Kameras oft ausgeschaltet bleiben… Phantom-Meetings. Man muß deutlich mehr in Konzentration und Aufmerksamkeit investieren, um Mißverständnisse und -interpretationen zu vermeiden. Das Zwischenmenschliche kommt schnell zu kurz, wenn man nicht ein besonderes Augenmerk darauf richtet. Der Austausch in der Kaffeeküche oder auf Veranstaltungen ist durch keine Videokonferenz gleichwertig zu ersetzen.
  • Interne Meetingkultur
    Es bedarf vieler Ideen und Veränderungen, um den Kontakt zu Mitarbeitern und Kollegen aufrecht zu erhalten. Tools können das an vielen Stellen unterstützen. Ersetzen können sie das persönliche Engangement und die Verankeurng neuer „Rituale“ nicht.
  • Erprobte Pfade verlassen
    Der Zwang erprobete Pfade verlassen zu müssen, hat viele neue Ideen zu Tage gefördert. Vieles davon macht richtig Spaß.
    Ich hätte mir nie träumen lassen zwischen erstem und zweiten Lockdown einen Projekt-Kick-Off für das Management beim Kunden in einer riesigen Halle durchzuführen.

 

 

 

 

 

  • Kundenbeziehungen verändern sich nachhaltig
    Viele Kunden haben in wenigen Wochen Veränderungen (zwangsweise) eingeleitet und umgesetzt, die vor COVID-19 teilweise nicht denkbar gewesen wären. Die Veränderungen aktiv von zu Hause begleiten zu dürfen und gemeinsam die Bestätigung zu erhalten, das die „verrückten“ Ideen Früchte tragenist ein sehr befriedigendes Gefühl.
    In meiner Erfahrung haben viele Kundenbeziehungen auch eine neue Qualität erfahren. Alle Seiten haben ein deutlich besser ausgeprägtes Verständnis, wenn ein Ansprechpartner oder Meetingteilnehmer einen schlechten Tag hat. Gleiches gilt für kurzfristige Verschiebungen von Terminen, wenn mal wieder das Homeschooling kurzfristig die volle elterliche Aufmerksamkeit erforderte.
  • Hardware/Ausstattung
    Die Anforderungen haben sich verändert. Eine professionelle Ausstattung mit an Hardware, Beleuchtung und Arbeitsplatzmöbeln erleichtert die Arbeit zu Hause noch deutlicher als vor COVID-19. Verschiedene Headsets z.B. werden situationsbezogen genutzt. Bin ich alleine im Haus wird die Tischfreisprecheinrichtung genutzt, ist ein oder mehrere Familienmitglieder zu Hause kommt ein Headset zum Einsatz.
  • Netzwerke
    Alte Grenzen lösen sich auf. Ich bin heute im (un)regelmäßigen Austausch mit Menschen, mit denen ich früher sehr wahrscheinlich nicht in Kontakt gekommen wäre.  Verbindungen zu anderen Beratern und Unternehmen, die in den letzten Monaten entstanden sind und die für beide Seite Vorteile bringen wären vor dem 13.03.20 oft nicht zustande gekommen. Häufig ist man ist sich aus Wettbewerbsgründen o.ä. aus dem Weg gegangen.
  • Vor-Ort-Termine
    Die wenigen Vor-Ort-Termine der letzten 12 Monate waren mit Reisen in leeren Zügen, leeren Bahnhöfen und leeren Innenstädten verbunden. Ein für mich durchaus bedrückendes Gefühl wenn man quasi einen Privat-ICE auf dem Weg zum Kunden hat und am Zielbahnhof an einem Mittwoch vormittag als einer von 5 Fahrgästen aussteigt.

 

 

 

 

  • Bildungspolitik
    Es gibt für mich kein größeres Sinnbild für die Rückständigkeit unserer Gesellschaft beim Thema Digitalisierung auf der einen und beim Thema Rollvenverteilung auf der anderen Seite. Was wir beim Thema Homeschooling mit unseren Kindern teilweise erleben müssen spottet jeder Beschreibung. Von der genutzten Technik, über den nicht adaptierten Lehransatz der Lehrer (20 Jahre alte Arbeitsblätter werden einfach per Email verteilt, Videokonferenzen werden nicht genutzt usw.) bis hin zur Untätigkeit oder Planlosigkeit auf höchster politischer Ebene haben wir alles im Angebot. Auf der anderen Seite macht es mich fassunglos, das es scheinbar immer noch für viele unvorstellbar zu sein scheint, das sich beim Thema Homeschooling die Rollenverteilung zwischen den Eltern anders darstellen kann. Der Kommentar in einem Kennenlern-Termin mit einem potentiellen Kunden: „Ach, sie betreuen die Kinder im Homeschooling und nicht hre Frau? Wir sind uns nicht sicher, ob das unseren Vorstellungen für einen Berater entspricht“ hat dazu geführt, das ich den Termin direkt beendet habe und alle weiteren Gespräche mit diesem potentiellen Kunden ablehne.
  • Ich bin privilegiert
    Ich stehe auch in dieser anstregenden Zeit auf der Sonnenseite des Lebens: Wir wohnen in einem Haus mit Garten, alle sind gesund, unser Internetanschluß ist ausreichend dimensioniert, alle Familienmitglieder haben eigene Hardware und wenn wir die Kühlschranktür öffen, finden wir immer etwas zu essen. Ich habe einen Job, der mir viel Freiräume bietet und Spaß macht. Diese Privilegien muss ich mir regelmäßig bewußt machen, dann lösen sich viele vermeintliche Probleme sofort in Luft auf.

Vieles hat sich verändert, vieles wird sich noch verändern. Ich bin sicher es wird zukünftig eine Mischung aus der Zeit vor COVID-19 und der aktuellen Zeit werden. Eine Mischung aus arbeiten von zu Hause, und arbeiten beim Kunden vor Ort. Videokonferenzen und Vor-Ort-Terminen. Das interessante und spannende wird sein, wie die Grenzen weiter verschwimmen und unsere Arbeits- und Denkweisen mit der Mischform aus beidem Schritt halten werden.